An diesem Tag lerne ich zwei Attraktionen Berlins kennen, die Bar Raval und den Görlitzer Park, beides in Kreuzberg. Die Bar Ravel ist eigentlich eine ganz normale Tapas-Bar, gehört aber Daniel Brühl und der ihr gegenüberliegende Görlitzer Park ist eigentlich ein ganz normaler Park, gehört aber den Kaputtesten der Stadt. Seine Abenteuerspielplätze werben mit gewaltsamen Zwischenfällen, Verletzten und sogar Toten und die kulinarischen Spezialitäten kommen hier aus der Ecke Crystal Meth, Koks & Co. Her kommt nur, wer sich die Fernreise in den Krisentourismus nicht leisten kann, dessen Geld aber für ein paar Tagestrips reicht. Her kommt, wer Drogen will oder einfach nur mit seinen Kindern auf den Spielplatz, um diese dann unauffällig danach buddeln zu lassen, weil man mal gehört hat, dass sich das hier lohnt. Her kommt auch, wer sich unwissend her verirrt, so wie ich, weil er nicht weiß, dass das hier das Silent Hill Berlins ist, weil er nur mal pinkeln muss zum Beispiel. Dabei muss ich eigentlich gar nicht so richtig, es ist eher so ein Nervositätspinkeln, während man darauf wartet, gleich Erwartungen zu erfüllen und Leistung zu bringen. Eigentlich hat man überhaupt nicht angemessen getrunken, will sich später aber auch nicht die sowieso schon knapp bemessene Zeit durch Harndrang noch weiter verkürzen, deshalb geht man lieber vorher dreimal tröpfchenweise. Während ich im Gebüsch stehe und mich erleichtere, ziehe ich an, was mich abstößt und zwar mit einer abartigen Unmittelbarkeit, mit der die Dealer hier jedes Sprintduell um ihr eigenes Leben mit Zombies im Frischfleischwahn locker für sich entscheiden würden. Ich muss an Haie im Blutrausch denken, an Eisenspäne in akuter Magnetekstase und den abrupten Brechreflex, der mich überwältigt, wenn meine Geschmacksnerven mein Gehirn nach einem kulinarischen Unfall mal wieder daran erinnern müssen, wie überflüssig Rote Bete doch ist. Doch ich schaffe den kurzen Weg aus dem Gebüsch und über den Gehweg und über die Straße und über noch einen Gehweg und stolpere über die Schwelle in die Bar Raval und stehe dann, ohne Harndrang, vor meinem Termin. Er hat heute außer unserem noch viele andere, mit vielen anderen, weil er nämlich heute sein Debütbuch vorstellt, das Ein Tag in Barcelona heißt und in dem es darum geht, was man in Barcelona so machen kann, wenn man nur einen Tag Zeit hat.
Ich begrüße ihn und begnüge mich mit dem Teil seines Namens, den verliebte Endzwanzigerinnen heute immer noch, in besonders einsamen Nächten, lustvoll und mit geschürzten Lippen voran, sabbernd in ihr Kopfkissen stöhnen. Den Rest, nämlich César Martín Brühl González Domingo, lasse ich wegen der knappen Zeit einfach mal weg. „Daniel!“, sage ich also stöhnungslos, als wir uns sehen und ich sage es so, als hätten wir uns ewig nicht gesehen, dabei sehen wir uns grade zum ersten Mal. Vielleicht etwas zu schnell und zu laut werfe ich ihm seinen Namen an den Kopf, so als würde ich, meines Wissens sicher, bei „Blamieren oder Kassieren“ die alles entscheidende und Raab knapp schlagende Antwort auf eine Frage wissen, die mit „Daniel“ zu beantworten ist. „Daniel“, sage ich und es klingt auch ein bisschen so, als wenn Herbert Grönemeyer die Worte “Männer“ oder „Bochum“ oder „Flugzeuge“ singen würde, betont und abgehackt und nasal und halt grönisch irgendwie.
Dann setzen wir uns und sitzen da und quatschen über dies und das – zum Beispiel über seinen neuen Film Rush, den er mit Regisseur Ron Howard gedreht hat – und trinken Wasser aus viel zu kleinen, aber dafür sehr hippen Gläsern, die wie Petrischalen aussehen. Die gibt es bestimmt nur in Berlin, denke ich, und leere während dieses Gedankengangs zwei weitere Male mein Glas und schenke ebenso oft nach. Und dann haben wir vor lauter Quatschen irgendwann keine Zeit mehr, in der dann noch irgendwie Fotos gemacht werden müssen.
Daniel strahlt eine so enorme Sympathie aus, die mir selten so begegnet ist und, die einem schnell das Gefühl gibt, als gebe es da ein ganzes, langes, bisheriges Leben voller alter Geschichten, das man miteinander teilt, ein Leben, das man gemeinsam, Seite an Seite, ein ganzes langes Stück weit durchschritten hat, als es noch Schulpausen gab und Jugendfahrten ohne Eltern in den Tennisurlaub, irgendwo in die jugoslawische Vorsaison oder den Arschkartenfahrerjob am Wochenende in die Disko, durchs erste Verliebtsein und durchs erste Verlassenwerden hindurch, Jahre, in denen es noch Langeweile gab und Zeiten, in denen Zeit noch gefüllt werden musste, weil man so viel davon hatte und so wenig zu tun, Zeiten, in denen man unbedingt älter werden wollte, weil dann alles besser würde, bis dann alles irgendwann mal kippte und doch ganz anders wurde. Und irgendwo zwischen Markus und Andreas und Andreas und Matthias taucht plötzlich ein Daniel auf, der dort niemals war und, der dort auch nicht hingehört. Über sowas denke ich nach, während ich am Görlitzer Park entlang, zurück zu meinem Auto laufe, darüber und darüber, dass es hier doch trotzdem eigentlich ganz schön ist in Berlin, im Sommer 2012.
Berlin, im Sommer 2012
