It's pretty chaotic and powerless and black in much of New York right now.
Better wait and see how restored it is after Sandy, the little storm. - Billy
„Sandy, the little storm“, klingt, abzüglich aller Ironie, zwar ein bisschen wie „Elliot, das Schmunzelmonster“, ist aber ein Arschloch, denke ich, als ich Billys kurze E-Mail lese, mit der das vielleicht außergewöhnlichste Treffen der letzten Jahre, nur wenige Tage bevor ich in den Flieger nach New York steige, noch ins Wanken gerät. Doch relativ schnell hat es sich dann auch wieder ausgewankt und totgewirbelt. Und während das Leben, nach einem der verheerendsten tropischen Hurricanes ever, versucht zu einer Normalität zurückzufinden, geht die Bahn mit Planmäßigkeit und gutem Beispiel voran. Nur zwei Tage nach meinem Besuch bei Siri, fahre ich von New York Central Station den Hudson River hinauf bis nach Poughkeepsie, wo Billy heute lebt. Er erwartet mich und während der Fahrt denke ich darüber nach, was mich erwartet und wie heute wohl jemand leben mag, der mal Andy Warhols Zunge im Hals hatte, jemand, der die Zeit der wilden 1960er Jahre und der Factory und all das mit all den Drogen und all den Partys und all der Kunst mitgeprägt und miterlebt und vor allem überlebt hat. Jemand, der ein Leben hatte, über das man, wenn es ein Film wäre, sagen würde, dass das Buch mal wieder besser war, weil nur ein Buch ein solches Leben in seiner durchgeknallten Fülle annährend abbilden kann.
Als ich Poughkeepsie erreiche, wird mir schnell klar, dass es ein Ort ist, dessen beste Zeit noch weiter zurückliegt als Billys eigene. Mit dem Taxi fahre ich vom Bahnhof zur angegebenen Adresse. Die Fahrt dauert nur ein paar Minuten, aber der Fahrer schafft es trotzdem mir sein komplettes Leben zu erzählen, ein Leben, das so interessant ist, dass ich mir nur Marokko und Jurastudium merken kann. Und dann ist mir sowieso alles scheißegal, denn wir halten an einem der wenigen Orte, an dem selbst Google Earth noch nicht gewesen ist und mein marokkanischer Taxifahrer sieht aus, als wisse er auch warum, denn er guckt mich an, als sei das einzige, was hier stimmt die Hausnummer. „Keine Sorge, wenn du da bis Sonnenuntergang nicht wieder raus bist, dann ruf ich die Bullen!“, würde jetzt jemand in einem Film sagen und ich wäre beruhigt. Aber später wäre dann der Akku vom Handy leer oder der Dorfpolizist und die Dorfnutte hätten etwas sehr Ernstes zu „besprechen“, das wichtiger wäre als klingelnde Telefone oder so eine dramaturgische Andenhaarenherbeigezogenheit. Und in genau solchen Filmen sind Häuser wie diese, Häuser, die man dann eben doch nicht mehr verlässt, wenn man sie einmal betreten hat, zumindest nicht bei guter Gesundheit und selten in einem Stück. Man sieht solchen Häusern sowas an, deshalb betritt sie niemand, nur in schlechten Filmen, die auch genau deshalb schlecht sind. Und dann spüre ich auch schon, wie meine Hand mir entgleitet, weil im Drehbuch steht: „Er drückte die Klingel und wartete. Ein Moment Stille. Dann eine Stimme aus dem Off.“ „Come up!“, ruft Billy herunter und meint die erste Etage. Die Tür sei auf und jetzt gibt es irgendwie auch kein Zurück mehr und jeder, der das hier sieht, schaltet vermutlich spätestens jetzt den Film ab, weil im wirklichen Leben ja kein Mensch so blöde sein kann.
Durch das staubige Treppenhaus dröhnt überlaut Opernmusik und so ahne ich nur, wie die Holzstufen bei jedem Schritt stöhnen würden, wenn ich es hören könnte. Von den speckigen Wänden ist im Laufe der Jahrzehnte großflächig Farbe abgeplatzt und hier und da fehlt nicht nur Farbe an der Wand, sondern auch ein bisschen Wand. Oben angekommen, betrete ich einen abgedunkelten Raum, der durch die halb heruntergelassenen Jalousien schläfrig aus allen Fenstern hinaus in die tiefstehende Sonne blinzelt und in dem tiefer Teppich eine große, gelblich-braune Rolle spielt und das vermutlich schon immer. Überall stehen esoterische Gegenstände, Kristalle, Drachenbilder und Drachenskulpturen und auch Billy selbst wirkt ein bisschen wie ein esoterischer Gegenstand mit seiner Halskette, seinen klobigen Ringen und seinem langen, dünnen, grauen Bart. „Let me give you a hug!“, begrüßt er mich gut gelaunt, tut es und wendet sich dann dem Radio zu, um es leiser zu drehen. Dann setzen wir uns und reden erstmal, reden über alles Mögliche, was uns einfällt, damit wir ein bisschen warm werden miteinander, wobei ich das Gefühl habe, dass er es mit mir längst ist. Er spricht über das Verstehen und Erklären der Welt und die Bedeutung von Zahlen, über Sandy und Stockcar-Rennen und die bevorstehende US-Wahl und Billy erklärt, dass er Obama unterstütze und sagt, dass er schwul sei und ich überlege, wieso er das tut und antworte mit „ich auch“, und meine Obama, und irgendwas mit „girlfriend“, nur für alle Fälle. Wir verbringen einen ganzen Tag miteinander, an dem ich ihn fotografiere und er mich, mit seiner schweren EOS, an dem wir spazieren und essen gehen und noch mehr reden und alte Bildbände anschauen mit Fotos, die er gemacht hat und, die von alten Zeiten erzählen und dann erzählt auch er noch ein bisschen von damals.
Die Jahre haben Billy deutlich gezeichnet, aber es sind nicht die Jahre an sich, die ihn vor der Zeit haben altern lassen, vielmehr das jahrelange Leben auf der Überholspur, das damals täglich so tat, als würde es ewig so weiter gehen. Doch am Ende ist die Zeit immer schneller als jedes Leben und holt uns alle ein, bevor sie uns davon läuft. Und auch meine Zeit hier läuft langsam davon und Billy wirkt traurig, weil er es weiß und deshalb umarmt er mich zum Abschied noch einmal und dann, als wäre ein Tag wie dieser selten geworden in seinem Leben, noch einmal. Und zumindest das tut ihm gut und mir dann irgendwie auch.
Poughkeepsie, im Herbst 2012
