Als mein rotes Swatch-Twinphone klingelt, erschrecke ich, denn das macht es schon seit einer Weile nicht mehr. Eigentlich kennt niemand meine Nummer, außer meiner Exfreundin, aber wegen dem „Ex“ ruft auch die nicht mehr an. Als ich rangehe ist New York am anderen Ende der Leitung, „New York“, denke ich, „klar, wer denn sonst?“. Es dauert etwas bis ich verstehe, was die Stimme will. Ich höre nur CAMI Music und Howard Shore und dann, wie in Zeitlupe, klingelt es noch einmal und ich erinnere mich, dass da ja was war, eine E-Mail. Ich hatte eine E-Mail geschrieben. Howard sei mit einem Treffen und Fotos einverstanden, erklärt die Stimme und außerdem ganz bald, ganz in der Nähe. Nur ein paar Tage später bin ich dann auch ganz in der Nähe, naja, in Luzern jedenfalls, denn dort im Kultur- und Kongresszentrum (KKL) soll in drei Tagen die Welturaufführung der Filmmusik des ersten Teils der Filmtrilogie Der Herr der Ringe parallel zur Vorführung des Films stattfinden. Dazu ist Howard persönlich angereist, denn es ist seine Musik, er hat sie komponiert. Auch die Stimme vom Telefon ist gekommen, sie heißt Joshua, ist Shores Assistent und wird mich in den kommenden eineinhalb Tagen immer wieder vertrösten und irgendwas vom „richtigen Moment“ erzählen, auf den man warten müsse mit dem Kennenlernen und den Fotos. Also warte ich geduldig darauf, dass ihm irgendein Moment richtig genug erscheint und tue das, wofür ich auch hier bin, ich dokumentiere die Generalproben für die große Premiere. Und während mir in dieser Zeit der schlimmste Liebeskummer meines Lebens einzureden versucht, dass das hier alles keinen Spaß macht und das Leben an sich sowieso sinnlos, scheiße und beendenswert ist, fühlt sich dieses Leben hier grade eigentlich ganz gut an. Howard ist die ganze Zeit über allgegenwärtig. Wie ein graumelierter Geist schwebt er sanft und würdevoll durch die Sitzreihen des großen Konzertsaals, taucht immer wieder leise ab und plötzlich irgendwo im weiten, tiefen und hohen Zuschauerraum wieder auf, auf einem der Balkone, auf einem der 1900 Sessel, als müsse er sich davon überzeugen, dass seine Musik auf jedem einzelnen gleich fantastisch klingt. Dann wieder tritt er ins Licht der Bühne zu den vielen Musikern des 21st Century Orchestras und redet leise mit Dirigent Ludwig Wicki, während sie in großen Blättern blättern, auf denen Schlüssel und Punkte und Linien eine fremde Sprache sprechen, die sich mir nie erschlossen hat.
Irgendwann in einer Probenpause kommt Joshua zu mir, nuschelt irgendwas von „now“ und zieht mich hinter die Bühne, wo es dann endlich soweit ist. Und dann steht da dieses Denkmal der Filmmusikgeschichte und seine an diesem Wochenende so wahnsinnig kostbare Aufmerksamkeit ruht jetzt einen Moment lang nur auf mir. Der graumelierte Geist wirkt irgendwie auch, wie ein trauriger, melancholischer Geist, an dem drei Jahrzehnte musikalischer Dauerrührungen ihre Spuren hinterlassen zu haben scheinen. Und mit Augen, die aussehen, als würden sie sich mit dem Weinen ganz gut auskennen, schaut er mich an, als wolle er mir sagen, dass das alles doch gar nicht so schlimm sei mit der Liebe oder vielmehr ohne und dann gucke ich ihn an mit einem Blick, der irgendwie von „Fick dich“ handelt und sich dafür bedankt, dass er mich grade an die ganze Scheiße, an den Liebeskummer und die Sinnlosigkeit und all das, wieder erinnert hat. Das hat wiederum den Effekt, dass er mich ziemlich irritiert anschaut, weil ich mir seinen ersten Blick natürlich nur eingebildet habe, worauf ich mir nun schnell versuche, einen versöhnlichen Gesichtsausdruck zurechtzulegen, der ihm irgendwie sowas wie ein Missverständnis verständlich machen soll. Und dann tun wir beide das einzig Richtige, wir gehen los, Seite an Seite, zur auserkorenen Fotolocation und dabei schauen wir uns einfach gar nicht mehr an, sondern in dieselbe Richtung, die weiten Wege des KKL entlang, die unzähligen Treppen ins Foyer des obersten Stockwerks hinauf und immer wieder in die Ferne, jenseits der großen Fensterfronten und über den dahinterliegenden Vierwaldstättersee hinaus, dorthin wo die Stadt liegt und sich unsere Blicke miteinander verlieren. Wir diskutieren ein bisschen über die Einmaligkeit dieses Konzerthauses, weil ich darüber auf der Zughinfahrt einen Satz gelesen habe und über seine Akustik, als würde ich etwas von Akustik verstehen und er antwortet höflich, als würde ich das wirklich, aber wisse genau, dass ich davon ebenso viel Ahnung habe, wie von Notenblättern und der Sprache der Musik. Die Fotoaufnahmen laufen gut, Howard weiß, was er zu tun hat und das tut er so wie alles, mit Ruhe und Geduld. Die Premiere am nächsten Abend ist übrigens der Hammer, auch, wenn ich kein großer Freund von Sätzen bin, in denen „übrigens“ vorkommt.
Zwei Jahre später sollte ich Joshua wiedertreffen, zufällig und nach einer anderen Premiere, der von Ryan Goslings neuem Film Blue Valentine, als wir auf den obersten Treppenstufen des Palais des Festivals et des Congrès in Cannes stehen und mit den Gedanken an den Film und an eine schon wieder verlorene Liebe in einen Abend starren von dem wir nicht wissen, was wir noch von ihm wollen. Die Welt ist klein und man sieht sich immer zweimal im Leben, nur wann, das weiß man nicht.
Luzern, im Frühjahr 2008
