Lächelnd und ohne Eile kommt mir Noah entgegen. Ohne seine Füße wirklich anzuheben, schiebt er seine Pantoffeln über den dicken Teppichboden der Empfangshalle, als würde er für die US-amerikanische Ü80-Biathlon-Staffel trainieren. Zeitgleich erreichen wir früh morgens den ausgemachten Treffpunkt, die Rezeption des vornehmen, jüdischen Seniorenstifts in einem kleinen Vorort Bostons, in dem er mit seiner Frau heute lebt. Noah bringt gute Laune mit, viel davon, und noch mehr Zeit. Komisch, denke ich, ältere Menschen haben immer alle Zeit der Welt und doch läuft sie vor ihnen weg. Noahs jedenfalls reicht für heute und für mehr als zehn Minuten.
Wir gehen ein paar Meter und etwas mehr und ich schaue mich suchend nach einem geeigneten Ort um, wo wir mit den Fotos beginnen können. Die ganze Anlage hier mit seinen zentralversorgenden Gemeinschaftsgebäuden, durch die wir schlendern, strahlt eine permanente medizinische Einsatzbereitschaft aus, während ausnahmslos allen Mitarbeitern eine mitfühlende Grundbesorgnis ins Gesicht geschrieben steht, die vertraglich vermutlich vorgeschrieben ist und hier zum Service gehört. Das ganze Personal wirkt ein bisschen so, als würden anteilnehmende Ansprachen in der ersten Person Plural hier nicht nur zum guten Ton, sondern zu den Benimmregeln gehören, so Fragen, wie es uns denn heute so gehe und so was. Jedes Wort in verschärfter Lautstärke, weil das Alter eben auch irgendwie verschärft ist.
Alles hier sieht aus, als wären jegliche Einrichtungsgegenstände nicht nur Teil eines innenarchitektonischen Gesamtkonzepts, sondern auch eines notfallversorgenden, als wäre jeder Sessel blitzschnell, transformermäßig in ein hochmodernes Krankenbett umfunktionierbar, als ließen sich die zahlreichen Stehlampen, die alle paar Meter die langen Korridore säumen, im Handumdrehen in handliche Defibrillatoren umfalten und, als könne jede Wand- und Deckenleuchte per Knopfdruck von warmherzig-gelb auf neongrell, OP-Style, umgeschaltet werden. Mit den großzügigen, privaten Apartments, die dem Kernkomplex angegliedert sind, erinnert das alles insgesamt trotzdem eher an ein großes Luxushotel, als an die letzte Station im Leben. Ein Luxus, den man länger genießt als jeden Urlaub, aber man muss sich ja auch schon mal was gönnen und wenn nicht jetzt, wann dann? Und außerdem ist „dann“ immer „irgendwann“ und das ist dann, in diesem Kontext hier, oft sehr zuversichtlich gedacht. Dann kann man sich das mit dem Geld und dem Gönnen auch gleich ganz sparen, weil das mit dem Ich-nehm-mein-Zeug-mit-ins-Jenseits-Ding hat ja schon in sämtlichen Pyramidenkulturen nicht so richtig gut funktioniert.
Die ersten Bilder entstehen in der öffentlichen Bibliothek des Hauses, die er mit seiner Frau ehrenamtlich betreut. Wahrscheinlich hat man ihm diesen „Job“ hier „besorgt“, weil man dachte, das passe ja ganz gut, schließlich habe er ja früher auch mal sowas mit Büchern gemacht. Wir verbringen einen ganzen Tag zusammen und unterhalten uns über alles Mögliche, aber vor allem über Fußball und Geschichte und die Verfilmung seines Buches Der Medicus. Dann beginnt es auch schon wieder zu dämmern. Am Ende ist Noah müde, er ist wirklich so müde vom Tag, dass seine 86-jährigen Augen noch ein paar Jahre älter aussehen. Er schafft es kaum mich zurück dorthin zu begleiten, wo wir uns am Morgen getroffen haben. „Wenn ich ehrlich bin…“, sagt er auf halbem Wege zurück und ich sage „Kein Problem, ich weiß wie ich...“. Und dann nicken wir beide und verabschieden uns voneinander. Und während die Sonne langsam hinter den Mauern der Anlage verschwindet, verschwinden auch wir beide zurück in das Leben, aus dem wir an diesem Morgen gekommen sind. Der Tag vergeht viel zu schnell, finde ich, aber so ist das mit Tagen im Spätherbst und plötzlich stehe ich wieder am Bahnsteig. Es ist kühl, die letzten Sonnenstrahlen krallen sich am Horizont fest und die Kälte pfeift ihnen durch die Finger einen vom Winter. Und während ich auf den Zug in Richtung Innenstadt warte, schaue ich mir auf dem Display meiner Kamera noch einmal rückschauend den Tag im Daumenkino an.
Boston, im Herbst 2012
