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Siri Hustvedt

Aktualisiert: 30. Okt. 2021

Zwei Minuten vor der Zeit wache ich auf. Ich taste nach meinem Handy und schalte die Weckfunktion aus. Die Weckmelodie kann ich jetzt nicht ertragen. Einen Moment lang liege ich nur gedankenlos da und sortiere meine Sinne. Die Heizungsrohre glucksen heiß, im Nebenzimmer Gestöhne in einer Sprache, die ich nicht kenne, dafür aber so laut, dass ich es auch gehört hätte, wenn die Wände etwas dicker gewesen wären, als ziemlich dünn. Es ist kurz vor sechs Uhr morgens, aber in dieser Stadt gibt es keine Zeit, alles passiert immer. Es ist ein bisschen so, wie mit den Jahreszeiten am Äquator, denke ich, da gibt es auch keine, höchstens eine und, da ist auch alles immer, vor allem heiß und feucht, so wie die Rohre hier und so wie das ein oder andere im Zimmer nebenan. Während ich überlege, was von beidem mich geweckt hat, Glucksen oder Stöhnen, drehe ich mich in meinem schmalen, durchgelegenen Hostelbett noch einmal für die Ewigkeit von fünf Minuten um und stelle dann fest, dass sich um 6:03 Uhr weder etwas daran geändert hat, aufstehen zu müssen, noch daran, wie ich mich vor fünf Minuten bereits gefühlt habe. Also steh ich auf, zieh mich an und mach mich auf den Weg.

Der Tag lauert immer noch irgendwo im Dunkeln und erst als ich Chelsea verlasse und mit der U-Bahn den Hudson River überquere und schließlich Manhattan gegen Brooklyn eintausche, tritt er langsam und glühend ans Licht. Ich fahre vorbei an backsteinigen Zigfamilienhäusern, deren Anblick man sonst nur aus irgendwelchen amerikanischen Problemfilmen kennt, in denen sehr viel Hiphop-Musik läuft, vorbei an U-Bahnstationen, an denen Menschen stehen, von denen ich hoffe, dass meine nicht auch ihre Bahn ist und zwischen uns immer diese Scheibe bleibt, durch die mir grade jegliche Gangklischees einen guten Morgen wünschen. Ich fahre weiter, bis ich in den schöneren Teil dieses Stadtviertels komme, bis kurz vor Prospect Park. Dort steige ich aus und laufe auf baumgesäumten Gehwegen, vorbei an den typischen dreigeschossigen, viktorianischen Häuserfassaden, in Richtung der angegebenen Adresse.

Auf dem Weg dorthin fallen mir einige der vielen Filme ein, die hier spielen und die Menschen darin, deren Leben sich in Brooklyn abspielt und, das deshalb immer ein bisschen komplizierter zu sein scheint, als das Leben anderer anderswo. Ich denke an Carrie-Bradshaw-Frauen und Greta-Gerwig-Figuren, an Woody Allen und Diane Keaton und Menschen aus Noah-Baumbach-Geschichten. Ich sehe sie alle deutlich vor mir, diskutierend mit einem Glas Wein in der Hand in gut ausgestatteten Retro-Küchen stehen, die aussehen wie aus einem Til-Schweiger-Film, in Coffee-Shops an Straßenecken sitzen oder auf den Treppenaufgängen vor ihren Wohnungen im Sommer und mit Freunden reden und dabei geht es nie um etwas anderes, als sie selbst, weil das Leben hier, und vor allem das eigene, so viel von sich reden macht. Es sind Menschen, die alle irgendwie mit dem Leben ringen und dem Schicksal hadern, sich selber suchen und dabei andere finden, Beziehungen und Sex haben, aber nie beides gleichzeitig, glücklich sind, aber nie wirklich oder unglücklich, aber nie lange und deren Leben sich irgendwo zwischen erfüllt und gefühlt verfehlt einpendelt. Und so beschissen es klingt, von diesem Leben in diesen Filmen geht trotzdem ein seltsamer Reiz aus, vielleicht, weil es letztlich doch eine heilere Welt ist, als die auf der anderen Seite des Flusses. Eine Welt, die nie ganz zusammenbricht, auch wenn es sich manchmal so anfühlt, und in der am Ende doch alles relativ gut werden kann, auch wenn das Ende nie das Ende ist und es immer weiter geht und es nie besser wird, als „relativ gut“ und selbst das irgendwann wieder anders ist. Und dann höre ich auf darüber nachzudenken, denn ich bin da, überpünktlich.

Ich klingle und es dauert nicht lange, dann erscheint Siri an der Türe. „Actually, two people are still sleeping!“, flüstert sie, bevor sie irgendetwas anderes sagt, und damit meint sie nicht, dass das jetzt unsere Chance ist, sondern, dass ich leise sein soll. Der Boden knarzt trotzdem ein bisschen, als wir uns durch die geschmackvoll eingerichtete Wohnung über zwei Stockwerke hinauf ins dritte schleichen, unters Dach, wo ihr Schreibzimmer liegt. Hier, an ihrem Schreibtisch, entstehen die ersten Bilder. Als wir am Ende wieder unter demselben holzigen Knarzen die oberen Stockwerke verlassen, schläft einer der „two people“ nicht mehr. Ihr Mann, Schriftstellerlegende Paul Auster, der sich schon seit langer Zeit durch sein Werk für den Literaturnobelpreis empfiehlt und dessen Bücher ich schon früh verschlungen habe, sitzt, zu meiner Begeisterung, in der Küche wie Cliff Huxtable auf einer Art Barhocker an einer Art Kücheninsel und liest Zeitung. Neben ihm steht eine Tasse, aus der Dampft aufsteigt. Wir unterhalten uns kurz, auch wenn es nur sehr kurz ist und nicht über einen Guten-Morgen-Gruß hinausgeht, aber immerhin, denke ich, immer hin, das ist Paul Auster, fuck yeah.

Als ich das Auster-Haus verlasse, ist es immer noch frisch und immer noch früh und in all den Cosby-Küchen sitzen sicher noch andere Cliff Huxtables mit ihren Zeitungen und ihren dampfenden Tassen und warten darauf, dass auch der Rest der Familie aufwacht. Es ist ein Tag wie jeder andere, für jeden anderen hier, aber nicht für mich, denn für mich ist grade alles mehr als nur „relativ gut“. Und deshalb muss ich jetzt auch gehen, denn so gehöre ich hier nicht hin.


New York, im Herbst 2012

Siri Hustvedt (*1955 – US-amerikanische Schriftstellerin)

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