Eine Feierlichkeit liegt in der Luft, die ich sonst nur von Weihnachten kenne. Seit Tagen reden die Menschen von nichts anderem, weil alles andere eigentlich auch schon gesagt wurde, schon vor langer Zeit und tausendmal, vor allem hier, in kleinen Fischerorten an der neuenglischen Küste wie diesem. Jedes Fenster in jedem Haus hat sich herausgeputzt mit ausgehöhlten Kürbissen, in denen Kerzen flackern, die grobgeschnitzte Fratzen in die langen Nächte malen. In den Schaufenstern der Shops grüßen Gemüsemännchen aus dankbaren Gemüsegesichtern mit herzlichen Wünschen zum Fest, denn schon morgen ist Thanksgiving. Nicht mehr als wenige hundert Menschen leben hier, in den kleinen und großen Häusern, die sich vom Wasser herauf in die Hügel gesetzt haben, wie brütende Seevögel auf ihre Nistplätze und, die mich irgendwie auch an Skandinavien erinnern, nur dass die meisten statt schwedischrot hier ostküstenweiß gestrichen sind. Eine Hauptstraße zieht sich von Ortsschild zu Ortsschild, ein kleiner Supermarkt im Zentrum, ein winziger Hafen, der die beiden Hummerrestaurants am Leben hält, einige Geschäfte für den restlichen Bedarf, ein Park, ein Versammlungshaus, eine Schule und irgendwas für die Kultur, alles was notwendig ist, damit eine kleine, funktionierende Gemeinschaft entstehen kann, in der die idyllische, innere Welt in Ordnung ist, bis sie von der Außenwelt abgeschnitten, durch bestimmte Vorkommnisse aus den Fugen gerät oder durch die Machenschaften eines mysteriösen Fremden, in einem Strudel fataler Ereignisse versinkt. Es ist ein Ort also, den sich niemand besser hätte ausdenken können als Stephen King persönlich, als habe er ihn hier in die Landschaft Maines geschrieben, weil er noch Großes mit ihm vorhabe, er, der Schriftsteller, dessen Name mit diesem Bundesstaat so unentzweibar verknüpft ist wie umgekehrt. Es ist außerdem ein Ort, der auch für eine zurückgezogen lebende Schriftstellerin wie Tess Gerritsen wie zurechtgeschnitzt und so typisch ist, wie man es in Büchern oder Filmen für übertrieben klischeemäßig hält. Aber die müssen ja auch irgendwo herkommen, die Klischees, denke ich, als das Taxi am Morgen nach meiner Ankunft, etwas außerhalb des Zentrums, von Asphalt auf Schotter wechselt und in eine einspurige Piste einbiegt. Nach rund einem Kilometer liegt an deren Ende nicht nur das Meer, sondern auch ein einziges Haus, das auf die Felsen direkt an den Ozean gesetzt wurde und von da aus auf den Atlantik und das Leben hinausschaut, wie ältere Menschen oder Kürbisse auf Fensterbänken auf einsame Straßen schauen, auf denen meistens dasselbe Nichts passiert wie hier und nur manchmal kommen andere Menschen und Autos vorbei, wie hier Wellen und Wale.
Ganz ehrlich, so wie Tess hier lebt ist es, als bewerbe sie sich mit einem meterhohen, dichten Neonleuchtreklamemischwald in bunt blickenden Farben für die Rolle des perfekten Opfers. Und dann ist sie auch noch alleine zu Hause, ihr Mann besorge den Truthahn für morgen, erklärt sie gut gelaunt und ich gerate gedanklich, fassungslos ins Stammeln. „Wieso sagst du sowas, was redest du denn da, wieso lügst du deinen Mann nicht irgendwo in den Garten oder in sein Arbeitszimmer, überleg doch mal!“ All das möchte ich ihr sagen und während ich bereits in ihrem großen, offenen und hellen Haus stehe, kann ich das alles gar nicht mehr mit ansehen. Diese Leute in diesen Geschichten machen aber auch immer, immer alles falsch und das wird ihnen dann irgendwann auch klar, aber immer, immer zu spät. Und dann wird mir schlagartig klar, was ich da grade eigentlich alles denke und, dass ich ja derjenige bin, der hier eigentlich gar nicht hingehört, der Fremde in dieser Geschichte, der Eindringling, der schon drin ist und dann frage ich mich ganz ehrlich, was das jetzt für mich heißt und, ob ich die Kontrolle über mich behalte oder durch was ich sie verliere und wann. Und um mich von meinen Gedanken abzulenken, frage ich nach ihrem Schreibzimmer und unter Dachschrägen, dort wo sie arbeitet, mit dem Blick aufs Meer, entstehen wenig später die ersten Fotos. Wir sprechen über ihr neues Buch und sie zeigt mir das Manuskript, ein Klotz, ein Brocken, ein Monolith an Papier, der sich rein optisch wie ein Fünfteiler anfühlt, was aber nur daran liegt, dass Seite um Seite, jede einzelne dieses ganz normal langen Buches, ihre Handschrift trägt. Keine ist wie die andere, jede wie der Fingerabdruck eines kreativen Momentes, ohne Blocksatz und „Rückgängig: Eingabe“-Option, aber dafür mit Durchgestrichen und Dazwischengekritzelt. Und während ich davon nicht unbeeindruckt bin, bin ich auch ein bisschen dankbar, dankbar dafür, dass hier jemand, mit Absicht oder ohne, die Handschrift hochhält, in Zeiten, in denen Handschrift statt selbstverständlich, umgänglich geworden ist, zu einem Stück digitalisierter Identität.
Schon seitdem ich meine Reise plane und den Termin mit Tess vereinbart habe, stelle ich mir vor, dass sie mich einsamen Reisenden am Ende einladen wird, mit ihrer Familie Erntedank zu feiern, was sie aber nicht tun wird und was ich deshalb auch für eine Unverschämtheit halten werde. Aber vermutlich macht sie jetzt das erste Mal etwas richtig und vermutlich ist das ihr Glück, denn wahrscheinlich wäre es morgen passiert und so behalte ich die Kontrolle über mich und wir alle unser Leben.
Maine, im Herbst 2012
